Frau Diana Meller, eine 66-jährige Stammkundin, kommt völlig aufgelöst in die Apotheke. Sie war gerade zur Befundbesprechung bei Ihrem Arzt. Der meinte, ihr Langzeitzuckerwert sei stark erhöht und sie solle sich möglichst zeitnah an eine Diabetologin oder einen Diabetologen wenden. Wahrscheinlich müsse ihre Typ-2-Diabetes Erkrankung zukünftig mit Insulin behandelt werden. Das kennt Frau Meller von ihrer Grossmutter, die wegen ihrer Zuckerkrankheit erblindet ist, obwohl sie Insulin gespritzt hat. Frau Meller hat daher furchtbare Angst vor einer Insulintherapie. Im Kundendossier sehen Sie, dass Frau Meller seit längerer Zeit mit oralen Antidiabetika (Metformin, Empagliflozin und Sitagliptin) behandelt wird. Sie beruhigen die Kundin und bestätigen, dass es eine gute Idee vom Arzt ist, sie zu Diabetes-Experten zu überweisen, denn genau zur Prävention von Folgeerkrankungen wie der Schädigung der Netzhaut ist es unerlässlich, dass sie ihren Blutzucker gut unter Kontrolle hat.
Stand: Juli 2025
Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes
Schritt 1
Das Literaturverzeichnis ist unter Schritt 10 dieser Fallstudie aufgeführt.
Typ-2-Diabetes (T2D) kann zahlreiche Folge- und Begleiterkrankungen verursachen (siehe Abbildung 1), vor allem durch Schäden an grossen und kleinen Blutgefässen, sowie an Nerven. Auch Krebs, Erkrankungen von Gehirn und Psyche, Haut- und Schleimhautprobleme, sexuelle Funktionsstörungen, Lebererkrankungen wie die Metabolische Fettleber (MASLD) oder Osteoporose können mit Diabetes einhergehen. Ein gesunder Lebensstil, eine frühe Diagnosestellung und somit ein rascher Therapiebeginn, eine Therapie-Eskalation durch Kombination verschiedener antidiabetischer Wirkstoffklassen und dadurch eine gute Kontrolle der Blutglukosekonzentration (BG) können das Risiko für Spätkomplikationen deutlich senken [1, 2, 3, 4, 5].
Durch Schäden an grossen Blutgefässen aufgrund einer chronisch erhöhten BG können verschiedene Probleme auftreten.
Zu den makrovaskulären Komplikationen gehören [6]:
- Arteriosklerose
- Koronare Herzkrankheit
- Herzinsuffizienz
- Myokardinfarkt
- Schlaganfall
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK)
Kardiovaskuläres Risiko, Risikoreduktion
Patientinnen und Patienten mit Diabetes haben ein deutlich erhöhtes Risiko für die Entwicklung von kardiovaskulären Erkrankungen mit den Folgeerscheinungen akuter Myokardinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulärer Tod. So verliert ein heute 60-jähriger diabetischer Mann sechs Lebensjahre im Vergleich zu einem gleichaltrigen nicht-diabetischen Mann. Ein 60-jähriger Diabetiker mit vorangegangenem Herzinfarkt verliert 12 Lebensjahre im Vergleich. Diese Daten verdeutlichen die Notwendigkeit einer konsequenten Behandlung von Diabetes, den assoziierten Risikofaktoren und kardiovaskulären Erkrankungen. Frauen mit Diabetes haben im Vergleich zu betroffenen Männern ein noch höheres Sterblichkeitsrisiko. In Deutschland ist es bei Männern mit T2D um das 2,8-fache und bei Frauen sogar um das 4,2-fache höher als bei stoffwechselgesunden Menschen beider Geschlechter [7, 8, 9]. Für die Behandlung von Personen mit T2D und kardiovaskulären Erkrankungen bzw. mit dem Risiko dafür wird der Einsatz von kardioprotektiven GLP1-Rezeptoragonisten (GLP1-RA: Liraglutid, Semaglutid, Dulaglutid) und/oder SGLT2-Inhibitoren empfohlen, die nachweislich das Risiko für major adverse cardiovascular events (MACE) verringern [6, 7, 8, 9, 10, 11].
Auch kleine Blutgefässe werden durch die dauerhaft erhöhte BG geschädigt, was zu verschiedenen Spätkomplikationen führen kann.
Diabetische Retinopathie
Durch chronische hyperglykämische Zustände kommt es zu mikrovaskulärer Schädigung der Netzhaut, was letztlich zur Erblindung führen kann. Zur Verhinderung der Progression einer diabetischen Retinopathie wird eine Senkung des HbA1c-Wertes unter 7 % empfohlen. Weitere Risikofaktoren sind arterielle Hypertonie sowie eine Hyperlipidämie, die entsprechend therapiert werden müssen [12, 13, 14]. Neu diagnostizierte Personen mit Diabetes sollen möglichst zeitnah eine augenärztliche Untersuchung durchführen lassen, um einen Status-quo-Befund der Netzhaut zu bekommen. Weitere augenärztliche Kontrollen sollen je nach Vorliegen von Risikofaktoren und abhängig von der Diabetesdauer alle ein bis zwei Jahre, bei bereits diagnostizierter Retinopathie häufiger, durchgeführt werden.
Warnzeichen, die auf Netzhautkomplikationen hindeuten:
- Plötzliche Visusveränderungen
- Nicht korrigierbare Visusverschlechterungen, Leseschwierigkeiten
- Farbsinnstörungen
- Verschwommensehen
- "Russregen" vor dem Auge in Folge von Glaskörperblutungen
Eine rasche Entwicklung einer Retinopathie zu Beginn einer Diabetes-Erkrankung ist selten. Wenn eine Retinopathie auftritt, dann ab einer Diabetesdauer von mehr als 10 Jahren oder bei sehr schlecht eingestelltem BG-Stoffwechsel (HbA1c-Wert > 10%). Wenn dieser rasch verbessert wird (z. B. durch intensivierte Insulintherapie oder bei Einsatz von Inkretinanaloga) können innerhalb von 12 Monaten Probleme an der Netzhaut auftreten [12]. Multifaktorielle Therapieansätze wie eine Lebensstiländerung, Gewichtsreduktion, Raucherentwöhnung, BG-Einstellung, Blutdrucksenkung, Normalisierung der Hyperlipidämie sowie medikamentöse Thrombozytenaggregationshemmung können das Retinopathie-Risiko um bis zu 50 % senken. Bei fortgeschrittener diabetischer Retinopathie oder Makulaödem sind aktuell die panretinale (die ganze Netzhaut betreffende) Lasertherapie oder intravitreale Injektionen mit Anti-VEGF-Wirkstoffen wie Aflibercept (Eylea) und Ranibizumab (Lucentis und Biosimilars) oder Kortikosteroiden Mittel der Wahl [12, 13, 14]. In einer aktuellen Studie haben Forschende an einem Mausmodell gezeigt, dass vor allem Hypoglykämien zur Pathogenese der diabetischen Retinopathie beitragen [15].
Diabetische Nephropathie
Unter Nephropathie bei Diabetes werden alle Formen der Nierenschädigung verstanden, die im zeitlichen oder ursächlichen Zusammenhang mit Diabetes auftreten können. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu einer Veränderung der Proteinausscheidung im Urin (Mikro- oder Makroalbuminurie), zu einer Abnahme der Nierenfunktion erkennbar an einer erniedrigten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und zu Begleiterkrankungen wie der arteriellen Hypertonie kommen. Regelmässige ärztliche Kontrollen der Nierenfunktionsparameter sollen durchgeführt werden [16]. Obwohl die diabetische Nephropathie eine der häufigsten Komplikationen von T2D ist, für die die Leitlinien eine intensivierte Therapie empfehlen, wird die Erkrankung häufig übersehen und untertherapiert. Diese Erkrankung führt zu terminalem Nierenversagen und Dialyse. Laut der Kidney Disease: Improving Global Outcomes -Organisation (KDIGO) wird zu konsequenter BG-Kontrolle und Therapie mit Metformin plus einem SGLT2-Hemmer geraten. Zum Schutz der Nieren wird eine Behandlung mit einem ACE-Hemmer oder Sartan empfohlen [17, 18]. Bei Personen mit T2D und chronischer Nierenerkrankung wird neben RAS-Blockern, SGLT2-Hemmern und GLP1-RA auch der Wirkstoff Finerenon eingesetzt [19].
Die diabetische Neuropathie ist eine klinisch manifeste oder subklinische Erkrankung der peripheren Nerven, die infolge einer Diabetes-Erkrankung ohne andere Ursachen auftritt. Dazu zählen die sensomotorische Polyneuropathie und die autonome diabetische Neuropathie.
Sensomotorische Polyneuropathie: Diabetisches Fuss-Syndrom
Unter diabetischem Fusssyndrom versteht man alle pathologischen Veränderungen am Fuss. Jedes Jahr verlieren ca. 5000 Menschen mit Diabetes in Deutschland ein Bein, 30’000 Minor-Amputationen unterhalb des Sprunggelenks werden durchgeführt [20]. Meist ist die Amputation das Ende eines langen Leidenswegs, der mit einer kleinen Wunde am Fuss begonnen hat. Diese Wunden sind Folgen der diabetischen Neuropathie sowie des eingeschränkten Blutflusses in den unteren Extremitäten und werden wegen des Fehlens des Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindens zu spät bemerkt. Die Läsionen infizieren sich, der Gewebsuntergang läuft unbemerkt ab. Besonders hoch ist das Amputationsrisiko, wenn zusätzlich eine Durchblutungsstörung (PAVK) vorliegt. Qualifiziertes Personal in der Apotheke kann durch strukturiertes Nachfragen im Beratungsgespräch Risiken für Fussverletzungen aufdecken [21]. Durch ein multidisziplinäres, multiprofessionelles Vorgehen bei der Behandlung von Fussulzera kann die Häufigkeit von Amputationen gesenkt werden.
Richtige Fusspflege für Personen mit Diabetes:
- Regelmässige ärztliche Kontrollen
- Selbstkontrolle der Füsse auf Wunden, Druckstellen, Verhornung, Pilzbefall
- Handwarmes Wasser für Fussbäder verwenden, anschliessend gut abtrocknen
- Nägel gerade feilen, keine Scheren, Zangen oder Knipser benutzen
- Hornhaut nur mit Bimsstein entfernen
- Füsse regelmässig mit Harnstoff-Zubereitungen (5 bis 10 %) eincremen
- Täglicher Wechsel der Strümpfe
- Auf geeignetes Schuhwerk achten, Druckstellen vermeiden
Komponenten der Behandlung von Fussulzera sind [22]:
- Stoffwechseloptimierung und Behandlung der Grunderkrankungen
- Infektionskontrolle
- Entfernung avitaler Gewebeanteile
- Effektive Druckentlastung, geeignetes Schuhwerk
- Stadiengerechte, lokale Wundbehandlung
- Therapie der Gefässerkrankungen
- Schulung der Betroffenen
Autonome diabetische Neuropathie
Grundsätzlich kann die autonome diabetische Neuropathie (ADN) jedes autonom innervierte Organ betreffen. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine ADN Konsequenzen wie eine reduzierte Lebenserwartung, Endorganschäden und eine eingeschränkte Lebensqualität hat. Die ADN kann schon bei kürzerer Diabetesdauer auftreten. Dazu kommt, dass die mit der ADN verbundenen Symptome schambehaftet sind und von den Betroffenen nicht angesprochen werden [23].
Formen der ADN [23]:
- Kardiovaskuläre ADN: Verminderung der Herzfrequenzvariabilität, orthostatische Hypotonie
- ADN am Gastrointestinaltrakt: Verzögerung oder Beschleunigung der Magenentleerung, folglich abdominelle Symptome, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Obstipation, Stuhlinkontinenz
- ADN am Urogenitaltrakt: Blasenentleerungsstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, erektile Dysfunktion, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, verminderte sexuelle Lust
Die weitere Unterteilung von Personen mit Diabetes mellitus in Subtypen bietet Vorteile für die Prävention von Folgeerkrankungen. Diese neuere Klassifizierung, die über die traditionelle Einteilung in T1D und T2D hinausgeht, ermöglicht eine personalisierte Diabetes-Therapie, die allerdings noch keinen Eingang in die Leitlinien gefunden hat. Anhand verschiedener Parameter (Vorhandensein von Glutamatdecarboxylase -Antikörper, Alter bei Diagnose, BMI, HbA1c, Nüchtern-BG, Nüchtern C-Peptid, Geschlecht) werden Personen mit Diabetes in fünf Subtypen unterteilt. Diese Einteilung hilft, das individuelle Risiko für Folgeerkrankungen genauer zu beurteilen (siehe Tabelle 1) [24, 25].
Tabelle 1: Subtypen-Einteilung nach (Legende: * – Autoantikörper weisen auf einen autoimmunen Prozess hin, der typisch für T1D ist; MASLD – Metabolismus-assoziierte Lebererkrankung, nicht-alkoholische Fettlebererkrankung) [24]
| Subtypen | Kennzeichen | Besonderes Risiko |
|---|---|---|
| Schwerer autoimmuner Diabetes (SAID) | Entspricht dem T1D, Vorliegen von Autoantikörpern*, sofort Insulintherapie | |
| Schwerer insulindefizienter Diabetes (SIDD) | Keine Autoantikörper, schlechte Betazellfunktion, oft schlank, hohes Risiko für Komplikationen, häufig früh Insulintherapie | Neuropathie, Retinopathie, Makrovaskuläre Folgeerkrankungen |
| Schwerer insulinresistenter Diabetes (SIRD) | Hoher BMI, hohe Insulinspiegel, Fokus auf Insulinresistenz, Adipositas: Metformin, Inkretin-Analoga | Nephropathie, MASLD |
| Milder adipositasbedingter Diabetes (MOD) | Übergewicht, milde Insulinresistenz, Lebensstilmodifikation, milde medikamentöse Therapie | Adipositas-Folgeerkrankungen |
| Milder altersbedingter Diabetes (MARD) | Leicht erhöhter BMI, HbA1c, höheres Alter bei Erkrankungsbeginn, Lebensstilmodifikation, orale Antidiabetika | Geringes Risiko |